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22-01-07 12:00 Alter: 17 yrs

VON:GH

Orkan Kyrill verschont Berliner Zigarrenraucher

In vielen Kulturen wird der Tabakrauch zur Besänftigung stürmischer Götter verwendet. Das funktioniert auch heute noch – erwiesenermaßen in einem Teil von Berlin.



Man mag es nicht glauben, ...


... aber so wurde es erlebt.


Mit dem Rauch einer Zigarre ...


... lassen sich Stürme besänftigen ...


... wie man in Berlin erleben konnte.


Kein Orkan im Umkreis des Zigarrenduftes.


Wir sind in Berlin im Raucherzimmer von Maximilian Herzog und schauen auf die gegenüberliegende katholische Kirche. Die Berliner Morgenpost hat für den heutigen Tag orkanartige Stürme und schwerste infrastrukturelle Verwerfungen angekündigt. Den Lesern wird empfohlen, zumindest ab dem Nachmittag das Haus nicht mehr zu verlassen.

Nach und nach treffen nicht nur Aficionadas und Aficionados im Raucherzimmer ein, sondern auch Anrufe von Teilnehmer, die ihr Erscheinen für das abendliche Zigarrenseminar mit Hinweis auf die bevorstehende Naturkatastrophe absagen.

Die ersten Zigarren werden angezündet. Siglo VI, Partagas P2 und Por Larrañaga Lonsdales sind zur Besänftigung der Sturmgötter ausgewählt. Draußen weht ein laues Lüftchen. Die Äste der Bäume bewegen sich sanft. Passanten bleiben vor dem Schaufenster stehen und betrachten die Auslagen. Niemand trägt einen Schirm oder hat vorbeugend den Kragen hochgeschlagen. Hüte bleiben fest auf den Köpfen.

Ein Anruf bei der Fahrkartenreservierung irritiert. Der Zugverkehr wird nach und nach in ganz Deutschland eingestellt. Züge bleiben in den Bahnhöfen oder müssen den nächsten erreichbaren Bahnhof anlaufen. Vom Fahrkartenkauf oder gar Reiseantritt in den nächsten zwölf Stunden wird abgeraten.

Eine Aficionada will unbedingt noch heute nach Nürnberg, sieht aber kaum eine Chance und greift zu einem – Punch Zigarillo aus der Blechdose (in der Türkei in Lizenz gefertigtes Produkt mit Papieranteil im Deckblatt [homogenisiert]). Der Wind brist auf. Blätter fegen am Fenster vorbei, Regen wird nahezu waagerecht über das Trottoir gepeitscht, ein Schirm knickt über und sein Träger duckt sich – erfolglos.

Unsere Aficionada drückt schnell die kleine Papier-Tabakmischung im Aschenbecher aus und schaut entschuldigend und Hilfe suchend in die Runde. Eine rasch herbeigeschaffte Panatella kommt als Ersatz und wird angezündet. Der Wind wird schwächer. Die letzten Blätter flattern erschöpft zu Boden. Nur leise und verhalten tropft es auf die Straße. Die Bäume vor der Kirche schauen unserem Treiben wohlwollend zu. Demutsvoll neigen sich Äste in unsere Richtung.

Handy und Internet geben einen Blick auf die übrige Welt. Züge verharren in den Bahnhöfen, im Berliner Hauptbahnhof (für eine Milliarde Euro gebaut und rauchfrei) stürzt ein Stahlträger herunter, der Bahnhof wird geschlossen und der Berliner Senat verkündet den Notstand. Nichts geht mehr.

Rund um den Ludwigkirchplatz herrscht Ruhe. Wo ist nur dieser Sturm? Hier jedenfalls nicht. Der Zigarrenrauch hält Sturm und Unbill des wütenden Wettergottes ab.

Wir gehen in das ca. 800 Meter entfernte Restaurant Hermanns. Wo ist nur der Orkan? Ein leichter Wind – das ist´s dann aber auch.

Beim Warten auf das Rindergulasch mit Knödelservietten bringen wir den Göttern ein weiteres, kurzes aber kräftiges, Rauchopfer dar und beobachten eintretende Gäste, die wie aus dem Ei gepellt das Lokal betreten. Ganz Berlin ist im Ausnahmezustand – nur im Umkreis dauerhafter Rauchopfer herrscht Ruhe.

Wir machen eine Zigarreninventur und bleiben beruhigt. Notfalls reicht das für die ganze Nacht.

Weitere Katastrophenmeldungen aus Berlin und dem übrigen Deutschland treffen ein. "Kein Wunder", meint der Marketingmanager eines berühmten deutschen Zigarrenimporteurs, "alles Nichtrauchergebiete". Der Kellner ist dankbar für unsere Rauchopfer, füllt sich doch sein Lokal stetig.

Um den Schutz der Götter zu behalten, geht es anschließend mit einem Taxi in die nahe gelegene Casa del Habano. Es nieselt. Die Straßen sind nass, Blätter kleben auf dem Asphalt. Von Orkan oder Verwüstungen keine Spur.

Die Casabar ist gut gefüllt. Schon draußen empfängt uns der Duft der gottgefälligen Zigarren. Beruhigend - auch hier wird der Orkan nicht Fuß fassen.

Unangenehm wird es erst am nächsten Tag auf der Rückreise. Der Berliner Hauptbahnhof (rauchfrei) ist stellenweise zu einer Ruine geworden. Der Ersatzbahnhof (rauchfrei) ist mit Menschenmassen (mehr als 80% der Bevölkerung raucht nie oder selten eine Zigarre) überfüllt. Die Züge (rauchfrei) kommen nicht oder zu spät.

Es ist mir egal, immerhin herrscht immer noch Ausnahmezustand – ich entzünde eine Partagas Shorts.

Drei Minuten später fährt unangekündigt ein ICE ein. Die Tür des ersten Waggons (wenigstens zum Teil ein Raucherwaggon) hält vor meiner Nase. Einsteigen – Platz nehmen – weiterrauchen. Nach einer Stunde und dreißig Minuten bin ich in Hamburg.

Man sollte überall und mehr Zigarren rauchen.