Der kranke Freud

Lesen wir zunächst den Klappentext des Klett-Cotta Verlages:

" Sigmund Freud hat mehrmals biographisches Material gezielt vernichtet, hat immer wieder versucht, Spuren zu löschen, die ihn als Privatmensch in Frage stellen könnten, hat seine Anhänger aufgefordert, ihn allein mit seiner öffentlichen Existenz zu identifizieren und ihn somit zu mystifizieren. Am sichtbarsten wird die Verfremdung des Freud-Bildes an dem Tabu, das um seine Krebserkrankung errichtet worden ist und an das bis heute niemand zu rühren wagte. 16 Jahre lang litt er, der im übrigen sein ganzes Leben kränkelte, an einem Mundhöhlenkarzinom. Es mutet aus heutiger Sicht befremdlich an, daß diese Tatsache weder von ihm selbst noch von seiner Mitwelt, noch von seinen Biographen psychobiographisch gedeutet, d.h. in ihren lebensgeschichtlichen Zusammenhang gestellt wurde.

Der Psychosomatiker und Krebsspezialist Kollbrunner ist der erste, der das offenkundige Tabu als solches benennt und die - eigentlich naheliegende - Frage stellt, welche lebensgeschichtliche Bedeutung jene Erkrankung hatte. Indem der Autor in detaillierter Rekonstruktionsarbeit Freuds frühe Kindheit und Jugend, sein Verhältnis zu Eltern, Geschwistern und anderen nahestehenden Personen in ein neues Licht taucht, kann er zeigen, daß schon das Kind und der Heranwachsende von einem psychosozialen Umfeld geprägt wurde, in welchem für Liebe und Verständnis wenig Platz war: Freud wuchs zu jenem ehrgeizigen und harten Wissenschaftler heran, der sich persönliche Gefühle wie Liebe, Anteilnahme und Trauer im Dienste seiner wissenschaftlichen Mission versagte. Kann die Entstehung der Krebserkrankung, die bislang immer auf seinen starken Tabakgenuß zurückgeführt wurde, nicht auch mit dem Fehlen echter emotionaler Beziehung in Zusammenhang gebracht werden? "

Auf 344 Seiten Text sowie 83 Seiten Anhang mit Anmerkungen, Literatur-, Quellen- und Namensverzeichnis finden wir nicht nur eine vollständige Anamnese sondern auch die dazugehörige Interpretation aus der Sicht des Psychoanalytikers Freud. Der Vater - gemessen und beurteilt nach seinen eigenen Lehren. Hinzu kommen die Forschungsergebnisse der Psychoonkologie aus der Zeit nach Freud.

Kollbrunner seziert und beleuchtet aus dieser psychoonkologischen Sicht nicht nur die einzelnen (Krankheits-)Stationen sondern analysiert auch die Ursachen und forscht nach möglichen Kausalitäten aus der frühesten Jugend. Ein Detailreichtum an Fakten, dem man die rund 20 Jahre Forschungsarbeit durchaus anmerkt.

Über weite Strecken liest sich das Buch wie ein Krimi. Z.B. dann, wenn die einzelnen Maßnahmen beschrieben und belegt werden, die Freud unternahm oder unternehmen ließ, um seine diversen Erkrankungen für die Nachwelt unsichtbar zu machen. Und doch gibt es in Briefen und einer Unmenge anderer Originalquellen vieles, was begründete Rückschlüsse erlaubt und dem Leser eine Antwort auf die im Klappentext gestellte Frage erlaubt.

Das Buch ist eine wirkliche Fundgrube, sowohl für den nach Zitaten suchenden Aficionado, als auch für all diejenigen, die gerne den warnenden Zeigefinger heben. Dieser könnte nach der Lektüre nicht mehr ganz so hoch erhoben sein oder gar verschämt in der Hosentasche verschwinden.

 

Kollbrunner, Jürg

Der kranke Freud

Klett-Cotta, Stuttgart 2001

437 Seiten, 23 cm